Ruhestand. Dokumentationsroman einer moralischen Entrüstung - 9

6. März 2012

Gewappnet mit seinem tiefenwärmenden Rückengürtel watschelt der Pflichtbewusste in den Flur und bindet sich unter leisem Weh- und-Ach-Gestöhn die Schnürsenkel zu. Bemuttern hin oder her, ich schiebe ihm das Garagentor hoch und fahr schon mal den Wagen vor. Das wird wieder, sage ich aufmunternd, als ich der Ente den Schlüssel übergebe. Du hast gut reden, antwortet die Ente und quält sich hinters Lenkrad.

 

Wollte ich mich heute mit der aktuellen Entwicklung in der Causa Wulff befassen, wäre ich mit der anschwellenden Diskussion um den bevorstehenden Großen Zapfenstreich vollauf beschäftigt. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagt seine Teilnahme am Zapfenstreich ab, ist aber, wie vom Bundespräsidialamt zu hö­ren ist, überhaupt nicht eingeladen, Vertreter der Linkspartei und der Grünen betonen, sie hätten ihre Teilnahme auch bei einer offizi­ellen Einladung abgesagt, Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, will keinen Kommentar dazu abgeben, dass selbst er nicht eingeladen wurde, schließlich empfiehlt Frank-Wal­ter Steinmeier in der Rheinischen Post, Christian Wulff solle auf den Zapfenstreich verzichten, weil es keine Chance für eine eini­germaßen würdige Veranstaltung gebe.

 

Verzicht und Bescheiden­heit scheinen indes nicht die Sache des jüngsten Altbundespräsi­denten zu sein, und so sagt er nicht nur nicht ab, sondern bestellt statt der üblichen drei lieber gleich vier Musikstücke zu seiner offi­ziellen Verabschiedung! Ebony and Ivory möchte er hören. Kaum hat man sich von dem Schreck erholt, meldet Schloss Bellevue, er wünsche sich doch lieber Over the rainbow. Beim Stabsmusikkorps ist man sauer, weil Ebony and Ivory nicht gut geblasen werden könne, trotzdem habe sich jemand aus dem Korps hingesetzt und ein blasorchesterkompatibles Arrangement geschrieben, dann plötzlich Over the rainbow! Hoffentlich macht sich Herr Wulff jetzt nicht auch noch bei der Bundeswehr unbeliebt!

 

Aber ich will mich ja heute gar nicht mit der Causa Wulff befas­sen. Stattdessen soll es weiterge­hen im Text über meine dreiund­zwanzigjährige Volkskundestuden­tin Anke im Jahre 1985, die ohne die Möglichkeiten von Internet und Mobiltelefon unbekannten Fa­milienmitgliedern auf die Spur kommen will und mit ihrem Freund Manfred in einer Fernbezie­hung lebt. Ich möchte Anke einen Satz denken lassen, der sinnge­mäß lauten würde: In der Zeit, als ich noch Apfelsaft getrunken habe, ging es mir eigentlich gut. Be­schrieben werden soll ein Ge­fühl kindlicher Unbeschwertheit, das erinnert wird über die Erinne­rung an ein bestimmtes Getränk.

Ich fürchte, dass der Satz das aber nicht transportiert. Hätte ich den Markennamen eines Apfelsaftes, der für die sechziger Jahre typisch ist, so wie Bluna oder TriTop einen sofort an die siebziger Jahre er­innern, könnte der Satz funktionieren. Aber mir fällt kein Apfelsaft­markenname von früher ein. Ich selbst habe die vage Erinnerung an eine braune Kro­nenkorkenflasche, auf deren Etikett nur ein rotgelb­goldener Apfel zu sehen war und vielleicht noch der bloße Schrift­zug Apfelsaft oder der Name Goldsaft. Ich google das und gelange zum Graf­schafter Goldsaft. Das Rübenkraut im gelben Becher wür­de schon auch für die Kindheitserinnerung passen. Aber der Satz – In der Zeit, als ich noch Grafschafter Goldsaft gegessen habe, ging es mir eigentlich gut – kommt mir noch wunderlicher vor als mein ur­sprünglicher Satz. Da es das Rübenkraut auch heute noch zu kau­fen gibt, wäre der Bezug auf das Früher auch nicht eindeutig gege­ben. Man könnte denken, Anke sei es möglicher­weise bis vor kurz­em noch ganz gut gegangen, bis sie aufgehört hat, dieses Rübenk­raut zu essen. Dass es ihr bis vor kurzem noch ganz gut gegan­gen sei, könnte man auch denken, wenn in dem Satz einfach nur Apfel­saft steht, den sie bis vor kurzem getrunken hat, bzw. dann könnte man zusätzlich auch noch denken, Anke habe vielleicht ein Alko­holproblem. Das hat sie aber nicht.

 

Ich brauche einen zeittypischen Apfelsaftmarkennamen. Auf meh­reren Webseiten finde ich Listen von Markennamen für Nahrungs­mittel und auf Ebay dazu passende originale Werbeschilder, Etiket­ten, sogar Rechnungen. Aber es handelt sich dabei in der Mehrzahl um Produkte aus der DDR, so wird zum Beispiel eine original ver­schlossene Flasche Apfelsaft, Marke Balkan, 1964 angeboten, die laut Anbieter ideal sei für die Ostalgie-Party, Ost-Shops, Ostpäck­chen, Altkommunisten. 1964 wäre genau im vorgegebenen Zeitrah­men, nur, Anke ist nicht in der DDR geboren worden.

Vielleicht sollte ich den Satz einfach sein lassen. Vielleicht sollte ich einfach weiterschreiben und beschreiben, wie Manfred jedes­mal abblockt, wenn Anke ihm Neuigkeiten berichtet, die sie bei ih­rer Familienforschung herausgefunden hat, und wie sie immer mehr Fotokopien von wichtigen und unwichtigen Belegen, Fotos und Dokumenten erstellt und immer mehr Mühe hat, die Papierber­ge zu ordnen, und, und, und.... Die Satzgebilde, die ich dafür baue, ziehen sich wie Gummiarabicum. Die Zeit, die ich dafür benötige, vergeht schnell und schmerzvoll wie der Schlag mit der Fliegen­klatsche.

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