DAS HAUS - Sonntagsgabe für alle Lockdown-Geschädigten und "Clubhouse"-Genervten

 

Doris Brockmann

 

Das Haus

 

Wir gingen nachhaus. Und das Haus war nicht mehr da. Die Tür, die wir aufschließen wollten, war nicht mehr da. Die Fenster, durch die wir hinein­schauen wollten, waren nur Luft, Luft ohne Rahmen. Wir schüttel­ten die Köpfe und stellten uns auf das Grundstück – immer­hin war das noch da. Erst einmal abwarten, Zeit gewinnen, nachdenken.

 

Im Nachbarhaus, stand jemand hinterm Fenster. Wir winkten herüber. Der Jemand trat einen Schritt zurück. Wir gingen das Grund­stück ab, setzten Fuß vor Fuß, keinen Zentimeter auslassend. Wir hatten Boden unter den Fü­ßen. Das war ja nicht nichts. Aber es war zu wenig. Wir irrten über das Grund­stück, stampften mit den Füßen auf und schrieen, rauften uns die Haa­re, krallten die Finger in den Boden, Speichel tropfte uns vom Kinn.

 

Der Briefträger kam vorbei, stellte das gelbe Fahrrad ab und übergab uns die Post. Er komme doch viel herum, da höre und sehe er doch eine Menge, sagten wir, ob er nicht wisse, was geschehen sei. Es werde erzählt, sagte er, jemand sei hier auf den Plan getreten, in der Hand ein graues Wischtuch und habe alles restlos weggewischt. Aber das könne man doch nicht machen, so könne man doch nicht miteinander umgehen, das sei unzumutbar, unzumut­bar sei das. Er wisse es doch auch nicht, sagte der Briefträger, er sei doch nur der Überbringer der Nachricht, man dürfe ihm keinen Strick daraus dre­hen. Niemand wolle ihm einen Strick drehen, sagten wir, aber er müsse uns doch auch verstehen, wir befänden uns im Ausnahmezustand. Das sähe er, sagte der Briefträger und umklammerte die Griffe des Fahrrads. Im Ausnah­m­ezustand. Jaja, er müsse nun weiter, er sei schon spät dran, einen schönen Tag noch.

 

Wie wir das hassten, dieses „Einen schönen Tag noch“, das einem ständig hinterhergerufen wurde. Ratlos standen wir auf unserem Grund und Boden. Von wo sollte Hilfe kommen? Im Dämmerlicht sahen wir drüben an der Bus­hal­t­e­stelle einen Mann, eingeknickt wie ein abgebrannter Feuerwerks­körper in einer leeren Wein­flasche. Ob warten sich lohnt, weiß keiner so ge­nau. Die Sterne hielten Blick­kontakt, als säßen sie auf der anderen Seite des Bewer­bungs­gesprächs, voraus­ahnend, dass das Ganze nicht gut ausgehen würde. Wir versuchten, uns von unserer besten Seite zu zeigen, richteten uns auf, redeten, schwadro­nierten, sangen Lieder, bis uns die Gaumen­zäpfchen am Rachen klebten, trocken und brechreizerregend. Da erst bemerkten wir, dass wir die ganze Zeit vergessen hatten, zu essen und zu trinken. Wir gin­gen hinüber zum Kiosk, kauften belegte Brote, Wasser und Wein und beeil­ten uns, zurück­zukehren zu unserem Haus, das nicht mehr da war.

 

Wir hatten gehört, „Angst“ stamme von „Enge“ ab. Wenn das stimmte, mussten wir uns also keine Sorgen machen. Wir nahmen einen großen Schluck aus der Weinflasche, warfen die Briefe in die Luft, sangen ein Lied nach dem anderen und gruben uns kleine Bettmulden in den Boden. Ja, wir ließen uns nichts anmerken. Der Mond schien dazu. Wir schmiegten uns in die Erdmulden, schauten zum sternklaren Himmel, deckten uns mit unseren Armen zu und warteten auf den Schlaf. Möglich, dass uns ein Hauch von Wohlig­keit überkam. Wir versuchten, uns etwas vorzustellen. Es misslang. Wir waren keine Strategen. Der Nachtwind fuhr sanft über unsere Wangen. Wir würden aufpassen müssen, nicht zu verwahrlosen.

 

(Der Text ist eine überarbeitete Fassung meines "Text des Monats" (XI-2014) im Literaturhaus Zürich.)

 

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