Lavesum. Direkt neben Monte Carlo, westlich von Beromünster, nah bei Wien, schräg unter Hilversum. Ein grün markierter Standort mit der besten Endsilbe, die es für einen Radiosender gibt. Im Anfang geht es um Arbeit, um Waschen, um Vulkanausbruch, um Liebe, to love somebody. Alles in nur zwei Silben da plus Gesumm. Und taugt fürs Tagesprogramm genauso wie fürs Nachtprogramm und alles, was dazwischen kommt.
Irgendwann hat das tolle Weib den grünen Punkt auf die Skalenscheibe geklebt. Lavesum als feste Burg der Harmonie und steten Ansprache. Ein Druck auf die elfenbeinfarbene Taste, leuchten bald alle Sendeorte bernsteinfarben auf. Ein Dreh am Lautstärkeregler, schon bollern Hits und News ins Zimmer wie eine Ladung Kohlen durchs Kellerfenster. Die Gläser im Schrank vibrieren im Takt, meist machen auch die Fensterscheiben mit. Sogleich alles beschwingt. Das tolle Weib zieht die Rollläden hoch und den Gürtel des Morgenmantels enger. Es trägt nichts darunter, nichts Haltendes und Stützendes. Muss es sich halt selber stützen und halten oder das Stützen und Halten einfach bleiben lassen. Es ist ja frei. Seit vier Wochen. Hear the ticking of your heartbeat beating,… I am a timebomb, a ticking ticking ticking timebomb. Ja, stimmt. Doch sind wir nicht alle ein bisschen Timebomb? Nein, sind wir nicht.
Trotz voller Schallkraft von acht Röhren wird die Türklingel gehört – noch längst kein altes Weib. Der junge Paketbote sieht den Morgenmantel, sieht eine Kleopatra-Frisur, sieht Lippen, rot und prall wie aufeinanderliegende Chilischoten.
„Dr. Emilia Nolte?“
„Da sind Sie richtig.“
Der Paketbote ist außer Atem – so jung und schon im fünften Stock am Limit. Schweißperlen tropfen aufs notfallkoffergroße Paket.
„Nun hab' ich Sie!“ Dr. Emilia Nolte kichert und zeigt auf den Fleck, der sich tintenklecksartig in den Karton frisst: „Verwertbares DNA-Material“, sagt sie und lässt ihr Gegenüber nicht aus dem Blick. Einem sehr ernsten Blick.
Der Paketbote zuckt zusammen.
„Wollen Sie einen Schnaps?“
„Nein-nein, nur dieses Paket ausliefern!“
„Dann liefern Sie es doch endlich aus!“
„Ja. Und hier bitte unterschreiben.“
Dr. Emilia Nolte greift zum Handscanner und ritzt ein „No“ ins Display. Der Paketbote nimmt zwei Stufen auf einmal, obwohl das treppab schwieriger ist als treppauf. Die Empfängerin nimmt die Perücke vom Kopf, schüttelt ihre langen grauen Haare, und dreht sie zum Knoten.
Das Paket enthält vier Meter Stoff, gleißend wie die Goldseite einer Rettungsdecke. Er ist auch so dünn, reißfest und isolierstark. In Eis und Schnee ist die Goldseite einer Rettungsdecke nach außen zu wenden, sie wird besser erkannt und üblicherweise als Hilferuf verstanden. Das tolle Weib wird sich jetzt einen Overall nähen. Get your motor runnin'! Im Nu ist der Stoff zugeschnitten, jedes Teil gesteckt, das Nähmaschinenpedal bis zum Anschlag durchgetreten. Looking for adventure! Lange gerade Nähte, da geht die Arbeit flink voran. Druckknöpfe linealgenau auf dem Ganzkörperanzug verteilen. Vom Hals bis zum Schritt. Alle fünf Zentimeter ein Loch schlagen, einen Ring aufsetzen und vernieten. In Kürze haben Sie Ihr Ziel erreicht. And whatever comes our way. Was der für Augen hatte, der Paketbote, runde Kastanien, umkränzt von Wimpern, lang und gebogen wie das vordere Beinpaar der Schwarzen Witwe. Und die Eidechse auf dem Unterarm, zum Sprung bereit. Yeah!
Vorm Spiegel Posen einstudieren: Oberkörper aufrecht, Kinn waagerecht, die Füße beim Gehen leicht überkreuzen. Nasennah am Spiegel die Mimik kontrollieren: Augenbrauen nach oben, Nasenflügel blähen, Mundwinkel einpressen, auch einseitig. Der Spiegel hängt im schwach beleuchteten Flur der Rechtsmedizinerin. Die kann sich nicht erinnern, ihr Gegenüber von früher zu kennen. Seit kurzem erst kann Emilia Nolte sich anschauen. Tagein tagaus hat sie in den Spiegel geschaut, geprüft, ob alles perfekt sitzt, die Haare, das Kostüm, der Lidstrich. Aber sich selbst anschauen, konnte sie nicht. Das fing erst nach der Verabschiedung an, so weit ich weiß, würde sie sagen.
Das tolle Weib lässt Wasser in die Wanne, füllt Salbei, Kardamom und Rosmarin in ein Säckchen und riecht daran: Fast wie der Duft des Paketboten abzüglich seines Schweißgeruchs. Das tolle Weib lässt das Säckchen zu Wasser. Fast wie Grace Kelly das Modellboot in den Swimmingpool: I give to you and you give to me true love. Nun noch eine Trockenbürstenmassage mit der Klosterbürste. Die regt den Lymphfluss an, vitalisiert und macht die Haut samtzart, Unschönes aber nicht weg. Dr. Emilia Nolte steigt ins Wasser und paddelt mit den Füßen kleine Schaumkronen. Wäre ausreichend Totes-Meer-Salz vorhanden, wäre das Liegen ein Schweben, schwerelos fast wie fliegen. Leben im Konjunktiv. Der Spiegel beschlägt.
Eingehüllt in Botenduft und Badetuch entkorkt die Vitalisierte eine Weinflasche und dreht den Lautstärkeregler hoch. Einmal quer durch den Saal. Sich vorbereiten, sich locker, locker, locker machen. Kurz nach neun. Der Overall ist ausgehfertig. Die Perücke ebenfalls. Das tolle Weib auch gleich. Noch einen Schluck aus der Flasche und noch einmal quer durchs Zimmer. Locker, locker, locker. Niemand im Institut hätte beim Wahrheit-oder-Lüge-Spiel eine hohe Punktzahl in der Kategorie „zu was die Nolte fähig ist“ erreicht. So gut war die Nolte in ihrem Metier. Indizien auslesen und zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzen. I just try to stay alive … I put myself together … ecstasy is what I need. Noch einen kleinen Schluck. Das Badetuch fällt zu Boden und Dr. Emilia Noltes erster Blick auf das Haus gegenüber. Jemand steht am Fenster und schaut sie an. Sie drückt das Badetuch an ihre Brust und lässt die Rollläden herunterschnellen. Der Schmerz, den die Gurtbänder in die Handflächen schleifen, wird über Nacht bleiben.
Die Nacht ist noch jung und wartet. Es ist der 30. April. Dreißig Tage außer Dienst. Zur Feier des Tages eine goldene Uniform. Doch zuvor etwas Haltendes und Stützendes. Wattiert und mit Spitzenapplikation. Schöne Schalen mit wenig Obst darin. Etwas wagen, einfach machen. Kleinmut ist kein Mut. Denk nicht lange nach. Die Tür fällt ins Schloss. Maienduft zieht durch die Straßen. Der schwarze Mantel verdeckt die Uniform bis zu den Waden. Die grelle Schminke verdeckt das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Geradeaus und weiter. Vorbei am Institut, wo die Leichen warten auf Beschau, wo du nichts mehr verheimlichen kannst, wenn du dort landest. Außer, du stehst auf der anderen Seite. Dr. Emilia Nolte hat Geheimnisse entdeckt und nach sachdienlicher Entschlüsselung mit nachhause nehmen müssen. Das Frequenzlot beständig auf Lavesum. Sowas gibt Halt und schirmt ab vor unberechenbaren Ausbrüchen und den grausamen Folgen der Liebe. Anschließend minutenlanges Händewaschen und -desinfizieren.
Gegenüber das „BergaMotte“. Draußen an Stehtischen pathologiereife Gestalten im Neonlicht. Einer gibt den Leibhaftigen, das hexische Trio daneben den Escortservice. Das kann ja heiter werden. Eintritt bezahlen, Oberkörper aufrecht, Kinn waagerecht, die Füße beim Gehen leicht überkreuzen. Auf der Tanzfläche ein froschgünes Paar in Zeitlupenumarmung. Zueinander hin, voneinander weg und wieder von vorn. Ach Gottchen. Am Rand vier verschmockte Blues Brothers und zwei Alte, denen ein violetter Haarbüschel aus der Glatze wächst. Ein Dirndl mit grünen Zöpfen schreitet kusshandwerfend die Reihen ab. Das tolle Weib holt tief Luft. Augen zu und durch. I am a timebomb.
Tanzbewegungen wie auf Sektionspiktogrammen. T-Schnitt: Gerade Linie von Schulter zu Schulter und mittig herunter zum Schambein. Y-Schnitt: Schräg von Schlüsselbein zu Schlüsselbein und am Brustbein entlang zum Schambein. Dann die gesamte Wegstrecke in gleichmäßigen Spiralbewegungen zunähen. Irgendwann überhaupt keine Schnitte und Nähte mehr: Arme hoch, Wolken schieben, Kantenschlag und Ballaballa-Fächer. Der Hintern ausgestreckt, dass ein Bierkasten darauf Platz fände. Die Kleopatra-Frisur steif und fest auf dem schütteren Haar. Way oh way oh, walk like an Egyptian. Unter der Rettungsfolie fließt und wummert es. Ein Gebückter in Badehose trippelt heran und zwinkert dem tollen Weib aus Nabelhöhe zu. Honey, you can do anything, every little thing. Ein Hüftschwung und der Alte taumelt. Das Dirndl wirft das Bein auf Cancan-Niveau, kippt vornüber und landet in perfektem Spagat. Die Tanzfläche wird voller. Überall Hände, Kniee, Fratzen, Atem und Schweiß unterm orangeroten Licht der LED-Kronleuchterkerzen.
Hinter der Treppe vor den Toiletten schwankt, als stehe er im Sturm, der Gebückte mit heruntergelassener Badehose und macht sich über die Spagatkünstlerin her. Zeigt die Abwehrreaktionen? Seufzt, schnauft, fiept. Soll das so? Muss man einschreiten? Dr. Emilia Nolte geht nie ohne Pfefferspray, Ätherfläschchen und Skalpell aus dem Haus. Noch ein Blick durch die Gitterroststufen. Augenscheinlich soll das so. Keine weitere Indiskretion. Ein Vollbart nimmt Anlauf, die trommelnde Zunge ausgefahren wie ein beatmeter Luftrüssel vom Jahrmarkt. Das tolle Weib greift in die Tasche mit den Abwehrmitteln. Reflexartig. Doch das ist jetzt der falsche Reflex. Sektionen bestehen aus einer äußeren und einer inneren Besichtigung. Im vorliegenden Fall genügt die äußere Besichtigung. Diesem Bart will man die Körperhöhlen nicht öffnen. Was will das tolle Weib? Auf keinen Fall das T verlieren. Und was noch?
Wieder raus auf die Tanzfläche und die Handbremse lösen. Du hast genug fern gesehen, Hörspiele gehört, Tote abgetastet. T-Schnitt. Y-Schnitt. Grobe Naht. Hit me with those laser beams, ow, ow, ow. Na also. Hüfte vor und zurück, Arme wie beim Abfahrtslauf. Ow, ow, ow! Schon packt einer zu, packt die vom Rolladengurt brennende Hand, legt sie sich auf den Nacken und seine eigene auf das goldverhangene Hinterteil. Das tolle Weib schaut auf die Uhr: 23:36 Uhr und hält fest: 45-50 Jahre, ca. 1,80 m, ca. 105 kg, Rasur des Haupthaares, keine Narben, goldener Ohrstecker am linken Ohrläppchen, Nackenregion unauffällig, keine Tätowierung.
Kaum mehr als eine Abstellkammer. In der Ecke ein Metalleimer mit Wischmopp. Daneben eine Kleenex-Box. Mitten im Raum eine Polsterliege mit hellblauem Spannlaken. Mut ist, keine Furcht zu haben in einer Situation, die Angst macht. Der breite Lackgürtel, der überm weiten Overall die schmale Taille markiert, wird geöffnet. Das Aufreißen der Druckknöpfe hallt wie eine schwache Maschinengewehrsalve. Die Kleidung kann teilweise anbehalten bleiben. Der Brocken greift an die schönen Schalen, drückt zu und gibt den Rhythmus vor, die Augen in Schlitzen, die Lippen zusammengepresst, der Kopf geduckt wie ein Galeerensträfling. Emilia Nolte sieht eine Nähmaschine. Denkt an Passform und Korrektur. Den Winkel ändern, schon wird es besser. Den Rhythmus ändern, schon wird es besser. In der Deckenleuchte ein Insekt, das größer scheint, als es sein kann, hastet zum Rand, hält inne, macht kehrt und läuft im Zick-Zack auf die Glühbirne zu. Emilia Nolte schaut auf die Uhr und wieder zum Insekt. Die Messung nach vier Minuten zeigt feinste Vibrationen, ein sogenanntes harmonisches Beben, wie man in der Fachsprache den Tremor nennt, der in der Phase vor der Eruption einsetzt und lange anhalten kann, sehr lange. Leichte Erhöhung der Temperatur. Kein Austritt von Glutflüssigkeit. Trotz der unzweifelhaft vorliegenden Spannungszunahme ist nicht zuverlässig vorhersagbar, wie sich das Objekt im Weiteren verhalten wird. Wird es im Tremor ermatten oder wird das Unbeschreibliche hier getan, überwältigend und monströs wie beim Pinatubo 1990? Sieben Komma acht auf der Richterskala. Die gewaltige Eruption erst ein Jahr später. Ein Ausbruch ungeahnten Ausmaßes. Hier nur harmonisches Beben mit konstanter Frequenz. Jeder für sich. Das Insekt wetzt wieder zum Rand der satinierten Glasplatte. Der Galeerensträfling besinnt sich auf das Vertraute. Besinnt sich auf sich. Abrupter Rückzug. Einpressen des Mundwinkels, einseitig. Hear the smashing of your expectations. Emilia Nolte wird sich nie an den Geruch von nassem Mehl gewöhnen. Der Galeerensträfling sucht das Weite. Das tolle Weib sucht Desinfektionsmittel. Es muss sich mit einer Handvoll Kosmetiktüchern begnügen. Neben dem Metalleimer stehen zwei blaue Kobolde im Jerseystrick. Sie kraulen einander die Ohren und lächeln herüber. Dr. Emilia Nolte drückt die Nietenknöpfe aufeinander, legt den Lackgürtel um und trägt Lippenstift auf.
Im Institut brennt noch Licht. Zu viele Leichen oder zu viel Druck. Endlich vorbei. Rotheweg, Leonhardbrücke, Kastanienallee, immer dieselbe Strecke, jahrzehntelang.
„Hey, wart doch mal!“
Das tolle Weib erhöht das Tempo, schlüpft in den Mantel. Die Schritte werden lauter.
„Wart doch mal!“
Die Perücke verrutscht an der Stirn.
„Bleib doch mal stehen!“
Gesteigerter physiologischer Tremor.
Schon wird sich rechts und links untergehakt. Zwei im schmalen Anzug, Anfang 30, asthenisch, Zopffrisur, Weißnasen: „Ach du Scheiße, hinten zwanzig, vorne sechzig, ich dreh durch! Mutti im Goldanzug nachts im Park, wie krank ist das denn! Ich dreh durch! Wie notgeil ist das denn! Ich könnt' kotzen.“ Die Unterhakarme schnellen zurück wie unter Ansteckungsgefahr.
Gelegenheit zu fliehen. Ein Schlag auf den Rücken. Kopfüber in den Kies, lang ausgestreckt am Boden. Blitzbild von den Schaumkronen im Badewasser, völlig sinnlos. Wieder auf die Füße, mit den Händen abstoßen und fort, bloß weg.
„Nicht mehr gut auf den Beinen, Oma. Da helfen wir gleich mal mit Gehhilfe nach.“
Ein Tritt in die Leiste. Wieder am Boden. Kieselsteine in den Fäusten. Hintern hoch. Auf allen Vieren weiter.
„Das ist aber nix, streng dich mal ein bisschen an!“
Am Kragen über den Weg geschleift, dann fallen gelassen. Die warmen Gewehre werden aus den Hosen geholt und draufgehalten aufs Goldurinal.
„Hast du dir verdient.“ Die Wölfe heulen den Mond an.
Das tolle Weib drückt ab. Die Wölfe jaulen, heulen, fallen. Knien vor der Frau im Kiesbett. Die verteilt den Pfefferspray gerecht auf beide. Kann sich keiner beklagen. Pfefferspray ist in Deutschland nur zur Tierabwehr zugelassen. Einer der Wölfe versucht, wegzukriechen. Ein beherzter Schnitt an der Achillessehne, schon ist die Flucht zuende, da hilft auch kein bisschen Sich-Anstrengen. Der andere Wolf zittert und japst, wird vermutlich ersticken. Der am Weglaufen Gehinderte zeigt nach dem ersten Schmerzschock dieselbe Symptomatik. Lebensrettende Sofortmaßnahmen einzuleiten, wäre vergebens. Dr. Emilia Nolte kennt die Studien über die Wechselwirkung von Kokain mit Capsaicin, das dessen Wirkung um ein Vielfaches erhöht. Meist mit tödlichem Ausgang. Also abwarten und das Skalpell nicht aus der Hand lassen. Bei Fremdverschulden oder auch nur dem Verdacht auf Fremdverschulden hat der den Tod feststellende Arzt unverzüglich die Polizei zu informieren. Dr. Emilia Nolte kann im vorliegenden Fall kein Fremdverschulden feststellen.
Zuhause wartet der grüne Punkt über Lavesum, die feste Burg, die abschirmt vor unberechenbaren Ausbrüchen und den grausamen Folgen der Liebe. You don't know what it's like.
(In: erostepost Nr. 58, Salzburg 2019, S. 8-12. (Siegertext beim erostepost Literaturpreis 2019 des Literaturhauses Salzburg. Im selben Heft auch der Abdruck der Jurybegründung.)
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