Falsches und echtes Geklingel - 3. Lesetag TddL 2018

"Ich glaube, dass die Gedanken, die wir haben, die sich theoretisch in uns befinden oder lauern oder die sowohl möglich wie wirklich wären, einem gigantischen Ozean gleichen und immer da sind. Und dass sie dann an einen Strand gespült werden, der sinnbildlich für den Akt der Ausfor­mulierung steht."

 

Als ich beim Nachlesen einiger Texte des letzten Lesetages beim diesjährigen Bachmannwettbewerb auf diesen Satz stieß, kippte die morgendliche Skepsis gegenüber dem Text "Tagebuch einer jungen Frau, die am Fall beteiligt war" von Jakob Nolte. War mir beim Vortrag die vage Geschichte vom Mexikoaufenthalt der Ich-Erzählerin, die sich in merkwürdig tönenden Selbstvergewisserungsreflexionen ergeht, Umgebungsbeobachtungen aneinanderreiht, schließlich zwei Niederländerinnen trifft, mit denen sie am Ende in eine funkelnde Bucht fährt, recht belanglos erschienen, enträtselte sich mir bei der Lektüre, was Hubert Winkels, der den Autor eingeladen hatte, damit meinte, als er erklärte, dass der Text gewollt Unstimmigkeiten, Fehler präsentiere, "ein einziges falsches Geklingel" sei, das aber gewollt und gekonnt mache. Oder, um es mit Insa Wilke zu sagen: Hier gehe es nicht darum, was erzählt wird, sondern nur darum, wie es gemacht sei. Anders gesagt: Eine Durchquerung des Textes mit seinen eigenen Mitteln, die Verweigerung von Eindeutigkeit bzw. Sinnproduktion durch das Aneinanderreihen banaler und jederzeit relativierbarer Beschreibungen und Reflexionen. Man muss diesen Text mehrmals lesen, bis er leuchtet.

 

Stephan Groetzner las auf Einladung von Stefan Gmünder einen Auszug aus seinem Roman "Destination: Austria". Ein herrlich skurriler, sprachspielerischer Text, der mit Alliterationen und Assoziationen spielt, witzige Konstellationen baut und unter scheinbar Harmlosem Doppelbödiges versteckt. Komödiantisch im besten Sinne bietet er eine Parodie auf die Provinz, auf Österreich und seine gegenwärtige politische Situation, auf Xenophobie, auf Schönheitswettbewerbe und auch - vielleicht vor allem - auf den Wettbewerb, für den er geschrieben wurde. Klaus Kastberger reagierte unerwartet scharf und wenig textbezogen, dass sich der Eindruck aufdrängte Austria-Kritik sei allein österreichischen Autoren vorbehalten und Kastberger zutiefst beleidigt wegen der im Text auftauchenden Figur eines "Professor Doktor Doktor Kaschper", die ihm von den Mitjuroren als Anspielung nahegebracht wurde: "Ach, das bin ich?" Lohnenswert anzuschauen ist auch Groetzners Videoporträt, das den Autor in holzschnittartiger Comiczeichnung präsentiert und den richtungsweisenden Satz vorgibt: "Arno schaut durch das Loch im Käse und sieht eine Welt, in der es Wörter mit mehr als drei oder vier Buchstaben gibt."

 

Als Anwärterin auf einen der Preise ging Özlem Özgül Dündar aus ihrer Lesung. Selbst aus Solingen stammend, las sie im Jahr, in dem der Tag des Brandanschlages von Solingen sich zum 25. Mal jährte, einen Auszug aus ihrem Roman "und ich brenne". Die von Hubert Winkels als eine Art "Trauerlitanei" entfaltete Geschichte montiert angenehm unsentimental und eher abstrakt typisierend als rein dokumentarisch die Monologe von vier Müttern aus den Reihen der Opfer- aber auch der Täterfamilien.

 

Lennardt Loß beendete den Lesemarathon des Bachmannwettbewerbs 2018. Auf Einladung von Michael Wiederstein las er die Geschichte über einen Zahntechniker Hannes Sohr, der sich als ehemaliges Bomben gebaut habendes RAF-Mitglied entpuppt, das auf dem Flug nach Buenes Aires ist, wo es sich für 4000 Dollar günstig von einem Tierarzt eine Pistolenkugel herausoperieren lassen will, die seit 17 Jahren in seinem Bauch steckt. Dann stürzt das Flugzeug ab, und als wäre das alles noch nicht genug, kommen auch noch viel mehr Themen und Motive vor: DDR, Hepatitis B, SS, Zahntechnikergesellenprüfung, Harndrang, eine Mitabgestürzte und noch viel mehr. Für mich too much.

 

Ich wünsche Stephan Groetzner einen Preis, bin mir sicher, Bov Bjerg und Özlem Özgül Dündar werden einen bekommen. Dass die einzige österreichische Kandidatin Raphaela Edelbauer leer ausgeht, darf bezweifelt werden, Jakob Nolte, Tanja Maljartschuk und vielleicht sogar Corinna T. Sievers werden auf die Shortlist kommen.

 

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