9. Kläppchen - Sound


Ziemlich genau vor sieben Jahren habe ich den Schriftsteller Peter Kurzeck (10.06.1943 – 25.11.2013) für mich entdeckt. Sofort war dieser Sog da, der vom Sound seines (mündlichen wie schriftlichen) Erzählens ausgeht.

Irgendein komisches Rückenproblem hatte mich zu weitgehender Bewegungslosigkeit verurteilt und so lag ich in einem Liegestuhl vor der Heizung, draußen stürmte, regnete und schneite es, und konnte tagelang die Romane ("Oktober oder wer wir selbst sind", "Ein Kirschkern im März", "Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst", "Übers Eis") lesen und dem Geschichtenerzähler lauschen - kurz zuvor war im supposé-Verlag die CD-Box "Ein Sommer, der bleibt" erschienen: 290 Minuten lang erzählt Peter Kurzeck in freier Rede "das Dorf seiner Kindheit", verfertigt im Sprechen einen Roman, ebenso leicht wie komplex, und liefert im suggestiven Erzählstrom des Autobiographischen zugleich noch ein soziologisches Mosaik vom Alltag in der jungen Bundesrepublik und eine angewandte Theorie des Erinnerns.

Dieses Erzählen haut einen um. Wer von den Sätzen nascht, läuft tagelang mit diesem besonderen Tonfall, dieser Satzrhythmik im Kopf herum, fängt an, plötzlich alles im Kurzeck-Sound zu denken und zu lesen.

Ich habe damals einen Text geschrieben. Er sollte in eine längere Erzählung eingeschoben werden. Die längere Erzählung blieb unvollendet. Sie schlummert im Ordner "Alte Literatur" und mir ihr dieser Text. Draußen herrscht wieder "meine" Kurzeck-Lektüre-Wetterstimmung, nur geschneit hat es bislang noch nicht. Ich hol den Text aus seinem Schlummer und stelle ihn in das 9. Kläppchen (zwei Wochen nach dem ersten Jahrestag von Peter Kurzecks Tod). Eine Imitatio im Dienste von Memoria und Adoratio.

 

Kleine Stiefel im Schnee. Sanfte Eindrücke. Watteweich. Hinter sich schauen: Jeder Schritt ist abgedruckt. Zickzack laufen. Alles zu sehen. Alles selbst gemacht. Ganz alleine. Schneller laufen. Auf den Hügel zu. Aufpassen, dass der gezogene Schlitten nicht zu schnell wird, dir in die Hacken rast oder rechts vorbei, und das Ziehband umschlingt die kleinen Stiefel. Hinter sich schauen. Keine Zeit mehr, die Spuren zu betrachten. Nur noch den Schlitten im Blick. Guter Abstand. Jetzt hüpfend auf den Hügel zu. Immer noch so weit entfernt. Los, beeilen. Ziehen und nicht hinter sich schauen. Der sorgenvolle Blick der Mutter. Abschütteln, aus dem Kopf herausschütteln, feste nach rechts und nach links den Kopf schütteln, das Bild zerstreuen im glitzernden Licht der Wintersonne bei Schnee. Da strahlt und leuchtet alles. Schnell auf den Hügel zu. Kleine Atemwolken vor dem Gesicht und winzige Eiskristalle auf dem hochgebundenen Schal. Der sorgenvolle Blick der Mutter. Immer da, wie das Medaillon am Halskettchen. Nie ganz weg, immer da, wie ein Brandzeichen, ein Muttermal, und kann es nicht zudecken. Immer weiterlaufen und sich nichts anmerken lassen. Immer weiter. Bewegung bessert. Atemlos den Hügel erreichen. Jetzt auf den Schlitten und volle Fahrt voraus. Furchtlos den Hügel hinunter. Immer schneller. Schneller als alles, was man bis dahin kannte. Über Stock und Stein. Furchtlos und jetzt mit kräftigem Geschrei. Indianergeheul. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Unten vor dem Heckenzaun rechtzeitig abbremsen, in die Kurve legen, zum Stehen kommen. Hinter sich schauen, nichts zu sehen. Nichts, was bedrohlich wäre.

 

 

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