"Min Kamp 2"/"Lieben"

Getreu dem Motto "Das Leben ist zu kurz, um dicke Bücher zu lesen", mache ich normalerweise einen großen Bogen um Romane, die länger als 357 Seiten sind. Dann las ich eine Rezension zu Karl Ove Knausgårds Roman "Spielen".

"Spielen" ist der dritte Teil eines auf sechs Bände angelegten autobiographischen Romans, der im norwegischen Original den Titel "Min Kamp" trägt. Der Titel im eigentlichen Wortsinn scheint treffend gewählt, geht es doch um ein existentielles Ringen des gleichermaßen auf Wahrhaftigkeit und Form abzielenden Autors mit sich selbst und seinem Material. Dass ein deutscher Verlag auf eine 1-zu-1-Übersetzung des Titels, verzichtet, ist unschwer nachzuvollziehen. Stattdessen hat man die einzelnen Teile kurz und knapp mit einem (substantivierten?) Verb betitelt: Band 1 "Sterben", Band 2 "Lieben", Band 3 "Spielen", Band 4, der Mitte Juni auf Deutsch erscheinen wird, "Leben".

In der besagten Rezension findet sich ein Zitat, das sofort mein Interesse an dem literarischen Projekt Knausgårds geweckt hat. Es stammt aus einem Interview, in dem es vor allem um Band 2 "Lieben" geht:

 

Ich wollte etwas Majestätisches schreiben, etwas wie 'Hamlet' oder 'Moby Dick', aber dann habe ich mich in diesem kleinen Leben wiedergefunden: auf Kinder aufpassen, Windeln wechseln, mit meiner Frau streiten, unfähig, irgendetwas zu schreiben. Also begann ich, genau darüber zu schreiben. Und während dieses Prozesses begriff ich, dass das mein Material war. Ich mochte es nicht, aber es war immerhin etwas und nicht nichts. Wenn man Hölderlin oder Celan liest und ihr Schreiben bewundert, schämt man sich, über das Windelwechseln zu schreiben, es ist ohne jede Dignität. Aber dann wurde genau das zum Punkt. Das ist der ganze Punkt: nicht versuchen, irgendwo anders hinzugehen. Das ist, wie es ist.


Das hat mich provoziert, dieses nicht versuchen, irgendwo anders hinzugehen. Das ist, wie es ist. Darum habe ich mir Band 2 "Lieben" gekauft - obwohl er 763 Seiten lang ist. Wider Erwarten bin ich schnell und angenehm hindurch gekommen.

 

Knausgård (1968 geboren), der zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Norwegens gezählt wird, beschreibt seinen Alltag detailbesessen. Den Alltag eines Schriftstellers und Vaters, der sich ständig zwischen beiden Lebensbereichen hin- und hergezogen fühlt. Er möchte seinen Anteil in Sachen Familienorganisation einbringen, tut das auch mit Begeisterung und sieht sich dennoch permanent bedroht, den Anschluss ans Schreiben zu verlieren, leer zu werden, sich selbst fremd. Immer wieder handelt er mit seiner Frau Zeiten aus, wann er sich wie lange zum Schreiben in ein extra angemietetes Büro zurückziehen kann.

 

In Rückblenden wird die Enstehungsgeschichte der jetzigen Situation vergegenwärtigt: Die ersten schriftstellerischen Erfolge, die Anfänge der Beziehung zu seiner Frau, die Geburt der ersten Tochter, Umzüge, Gespräche mit befreundeten Künstlern, Mitarbeit in Kindergruppen, Reisen, Familientreffen, das zweite und das dritte Kind, die manische Depression seiner Frau, das Leben in Stockholm und Malmö, Interviews, Vorträge, etc.

 

Knausgård unterläuft permanent das schriftstellerische Gebot der Verknappung und Auslassung. Alles wird haarklein beschrieben, selbst so banale Alltagsvorgänge, wie das An- und Ausziehen von Jacken, Schuhen, beim Verlassen der Wohnung bzw. Heimkommen, Einkäufe, Kochabläufe, etc. Das langweilt mitunter, gern möchte man ein bisschen Lektorin spielen und einiges davon streichen. Eigenartigerweise frustriert dieser "Ballast" keineswegs die Leselust (bei mir jedenfalls), ich vermute, weil Knausgård sehr gut ausbalanciert: auf Banales folgt Tiefsinniges, auf tagebuchartige Einträge folgen essayistische Ausführungen über Literatur, Kunst, Musik, die genaue Beschreibung eines Kindergeburtstages ist mit Anmerkungen über den Wandel der Geschlechterrollen in Schweden gespickt, die Erinnerung an die erste Verliebtheit wird mit der Erinnerung an ein gemeinsam besuchtes Schriftstellerseminar verknüpft, Schilderungen von Räumen oder Landschaften werden zum Auslöser für eine Mikrotheorie des Erinnerns.

 

Ob ich mich komplett in den Kampf mit "Min Kamp" begeben werde, weiß ich noch nicht. Aber ich werde auf jeden Fall Karl Ove Knausgård im Blick behalten. Eine echte Entdeckung. Außerdem hat er mich auf den Geschmack gebracht, mir die neuere skandinavische Literatur mal etwas genauer anzuschauen. Die habe ich bislang sträflich unbeachtet gelassen. Darf doch wohl nicht wahr sein.

 

 (Karl Ove Knausgård: Lieben. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. München: btb 2013, 2. Aufl.)

 

 

 

 

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