Der zweite Advent liegt hinter uns und bald auch die Gesamtheit der großen Jahresrückblicke im Fernsehen. In dieser Zeit des Resümierens und Meditierens, was vom Jahre 2013 (übrig)bleibt, widmet sich die Süddeutsche Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe der Frage, was von den 2013 in Deutschland erschienenen rund achtzigtausend neuen Büchern (übrig)bleibt. Zu diesem Behufe wurden Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst, Musik, Literatur, Theater, Journalismus, Geistes- und Sozialwissenschaften gebeten, ihr „schönstes, größtes, wichtigstes Lektüreerlebnis“ dieses Jahres zu benennen. Die Nennungen füllen nun das gesamte Feuilleton dieses Tages und „ergeben zusammen einen Blick auf die Kultur und die Fragen unserer Zeit“.
Die Oberflächenbeschaffenheit unserer Kultur interessiert mich sehr, ebenso wie die Lieblingsbücher von interessanten Leuten. Es hat so etwas von Seelenverwandtschaft, zu entdecken, dass der eine oder die andere dasselbe gut findet, und außerdem freue ich mich über Hinweise auf bemerkenswerte Neuerscheinungen, die ich bis dato nicht wahrgenommen habe.
61 (sprich: einundsechzig) Stimmen wurden gesammelt. Eine solide Basis, die sich wohltuend unterscheidet von irgendwelchen Schnellschuss-Rankings, bei denen mit fünf bis 8 Stimmen über „Die Bücher des Jahres“ entschieden wird. 50 (sprich: fünfzig) Stimmen wurden von Männern, 11 (sprich: elf) von Frauen abgegeben. Mh. Sagen wir mal so: Ich unterstelle der SZ nicht, dass man dort in den Feuilleton-Stuben glaubt, die Männer könnten das einfach besser, das mit dem „Blick auf die Kultur und die Fragen unserer Zeit“. Ich vermute eher, dass beispielsweise Sigrid Weigel, Helene Hegemann, Terézia Mora, Marion Poschmann, Judith Schalansky, Antje Kunstmann, Kathrin Passig, Daniela Strigl, Olga Martynova, Hildegard Keller, Elke Heidenreich, Dorothee Elmiger, Elisabeth Bronfen, Lavinia Wilson, etc. Migräne hatten, zu sehr mit Nägellackieren beschäftigt waren oder mit Kochen, lieber shoppen gehen wollten oder einfach keine Lust hatten, Fragen zu beantworten.
Die elf Frauen gehören der Ü-50-Generation an – mit Ausnahme von zwei Befragten, die erst achtundvierzig Jahre alt sind. Ich habe nichts gegen die Ü-50-Generation, schließlich gehöre ich selbst dazu. Aber ich habe etwas gegen Zeitgeist-Ermittlung, die allein auf Meinungen und Urteilen von Menschen basiert, die deutlich näher am Ruhestand als am Studienanfang stehen. Wo sind die jungen Stimmen? Die Frage stelle ich ebenfalls im Blick auf die fünfzig Männer, auch wenn es in dieser Runde zwei Altersausnahmen gibt, nämlich Markus Gabriel (Jg. 1980), den jüngsten Philosophieprofessor Deutschlands, und Daniel Kehlmann – mit achtunddreißig Jahren der zweite Youngster.
Zum Wahlergebnis: Die Bereiche „Literatur“ und „Sachbuch“ halten sich ungefähr die Waage, sofern man die dreizehn genannten „Biographie“-Titel nicht einfach dem „Sachbuch“-Bereich zuordnet, sondern als einen eigenen Bereich fasst. Das scheint angebracht, weil sich einige dieser Titel ihrer Form nach im Grenzbereich zwischen literarischer und dokumentarischer Darstellung bewegen (Briefwechsel: Cläre -Yvan Goll- Paula Ludwig, Luigi Nono – Helmut Lachenmann; Richard Wagner „Mit den Augen seiner Hunde betrachtet“; Blogtext: Wolfgang Herrndorf).
In der Sparte „Sachbuch“ geht es thematisch um Globalisierung, Kapitalismuskritik, Weltwirtschaftskrise, Flüchtlingsströme im 20. Jh., Weltkrieg (I+II), „New-Yorker“-Reportagen Ende der 20er Jahre, das Elisabethanische Zeitalter, Insekten, den „Eisernen Vorhang“, den SPD-Wahlkampf, Liberalismus, Zukunftsvisionen, Esel, die moderne Geschichtsschreibung, Buchpreisbindung, den „Mann ohne Eigenschaften“. Sieger in dieser Sparte ist aufgrund einer Doppelnennung Thomas Nagels „Geist und Kosmos“, ein Plädoyer gegen „die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur“, über das Markus Gabriel, der wie Rüdiger Safranski für dieses Buch gestimmt hat, sagt: „Dies ist echte Philosophie auf der Höhe ihrer Zeit.“
In der Sparte „Literatur“ kann James Salters Roman „Alles, was ist“ ebenfalls zwei Stimmen (Jürgen Flimm, Marcel Hartges) auf sich vereinen. Dasselbe gilt für den 1932 von Ernst Haffner geschriebenen und nun im Verlag Walde + Graf bei Metrolit wieder veröffentlichten Berlin-Roman “Blutsbrüder“, der im Reportagestil den Alltag einer Clique obdachloser Jugendlicher und ihren fast zwangsläufigen Weg in die NS-Bewegung beschreibt. Für Frank Castorf, der neben Maxim Biller die „Blutsbrüder“ ausgewählt hat, ist der Roman „der kleine Bruder von Döblins ´Alexanderplatz`.“
Außer diesen beiden Doppelnennungen finden sich in der Sparte „Literatur“ keine weiteren Übereinstimmungen. Es reiht sich Altes bzw. Klassisches teilweise in neuem Gewand (neue Übesetzung oder Ausgabe), wie Dantes „Divina Commedia“, Büchners „Lenz“, Wilhelm Hauffs „Mitteilungen aus den Memoiren des Satan“, Balzacs „Cousin Pons oder die beiden Musiker“, neben Unbekanntes, wie z.B. Mircea Cartarescus „Orbitor“ oder „Jesse Thor. Das Werk“, und neben Neuestes, wie z.B. Dave Eggers „The Circle“ oder Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“.
Zweierlei fällt auf. Erstens: Autorinnen oder Autoren aus der jungen und jüngsten Schriftstellergeneration tauchen in der Liste nicht auf. Das verwundert nicht zuletzt auch angesichts der literaturbetriebsinternen Bedeutung, die etwa jene Entdecker-Wettbewerbe, wie der Ingeborg-Bachmannpreis oder der „Open Mike“ mit ihren Erfolgsfolgegeschichten haben. Zweitens: Autorinnen oder Autoren, denen in diesem Jahr ein bedeutender (deutscher, doch nicht nur, auch Alice Munro bleibt unerwähnt) Literaturpreis verliehen wurde, tauchen in der Liste nicht auf. Nicht ein einziger Titel, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 stand, hat es geschafft, von einer der 61 Persönlichkeiten zum schönsten, größten, wichtigsten Lektüreerlebnis geadelt zu werden.
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