Bachmannpreis 2013 – 2 /„Hortlik“

Hier nun folgt der zweite Text meiner Umfrage zum Thema „Kla­genfurttauglichkeit“:

 

Doris Brockmann: Umfrage: Bachmannpreis 2013

 

Hortlik

Hortlik gehört zu den Menschen, die beim Sprechen Speichelfäd­en zwischen den Lippen ziehen. Manche Gesprächs­partner verlieren deswegen schnell die Fassung, andere hingegen meinen, dass es darauf ankomme, was einer sagt, nicht wie er es sagt.

Hortlik macht normalerweise nicht viel Worte. Hortlik ist ein Mann der Tat. Gerne verschickt er leere Geschenk­kartons, um sich auszu­malen, wie die so Beschenkten reagieren und ihre Phantasie in Gang kommt. Phantasie stellt er sich als eine Art Lastkraftwagen vor, der während der Fahrt sowohl be- als auch entladen werden kann.

„In diesen Tagen des Staunens“, sagt Hortlik, „warten je­den Mor­gen Buchstaben auf der Fensterbank und wollen Worte wer­den. Weil aber das Russisch Brot sehr lecker schmeckt, verflüch­tigen sich die meisten Worte, noch ehe sie zu lesen waren. „Heu­te mor­gen“, sagt Hortlik, „konnten sich ein HUT, ein EI und eine ANNA retten. Sie dürfen nun den ganzen Tag in der Sonne lie­gen.“ Hortlik setzt sich zu ihnen auf die Fensterbank, blinzelt in die Sonne und träumt.

Gerne wäre er ein Schlafwagenschaffner. Dann würde er da­für sor­gen, dass die Schlafwagen die ganze Fahrt hindurch freund­lich ru­ckeln und alle Fahrgäste in ihren Betten furchtlos schlum­mern könnten, auch am Tage, denn seine Züge wären ausschließ­lich Schlafzüge. In die stiegen die Leute zum Schlafen ein, nicht um in die Fremde zu fahren. Die Schlafwagen könnten in jede Richtun­g fahren und von jetzt auf gleich die Richtung wechseln, ganz ohne Gefahr, denn auf den Schaffner ist hundertprozentig Verlass. Der hat seine Augen und Ohren überall. Der schlafe selbstredend nicht.

„Selbstredend“ ist ein Lieblingswort von Hortlik. Das führt er ger­ne im Mund spazieren, mahlt es genüsslich zwischen den Zähnen, speichelt es ein, schluckt es und käut es wieder. Manch­mal depo­niert er es in der Backentasche, damit er bei Bedarf schnell darauf zugreifen kann. SELBSTREDEND ist auch so ein Wort, das selten in der Son­ne liegt.

Viele Gedanken sind in meinem Kopf, die kenne ich gar nicht alle, stellt Hortlik eines nachts fest und bastelt daraufhin einen Stempel mit dem Aufdruck GEDANKE. Beim Spazie­rengehen stempelt er nun überall Gedanken, die er gewissen­haft durch­nummeriert, so kann er später mit jedem von ihnen der Reihe nach Bekanntschaft machen und sich mit dem ein oder anderen anfreunden.

Als Hortlik an seinem Geburtstag ein Paket erhält, ist die Aufre­gung groß. Er bekommt nur ganz selten Post. Der Ge­schenkkarton ist leer und Hortlik jauchzt: „So ein hübsches Schlafwagenschaff­nerkäppi! Genau so eines habe ich mir ge­wünscht!“ Dann setzt er es auf, steckt den Stempel ein und geht zum Bahnhof.

Dort stehen so wenig Leute, dass Hortlik jedem Reisenden ins Ge­sicht schauen kann. Grüßend tippt er an sein Schlafwagenschaffnerk­äppi und fragt: „Wohin des Weges?“ Vor ei­nem Kind und einem Hund mit Schleifen im Haar bleibt er länger stehen und sagt: „Habt keine Angst. Überlasst alles dem Hortlik.“ Der Hund stürzt sich auf das knusprige End-D von SELBSTRE­DEND.

Da kommt auch schon der Zug und Hortlik geht die Kissen auf­schütteln. Sein Vergnügen ist groß: „Auf der schwäbsche Eise­bahne / dürfet Küeh und Öchsle fahre / Buebe, Mädle, Weib und Ma / kurzum alls, was schlafe ka.“

 


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