Ruhestand. Dokumentationsroman einer moralischen Entrüstung - 8

Der Altkanzler Helmut Schmidt (94) sagt heute in der Bildzeitung, Christian Wulff (52) sei schon als Ministerpräsident von Nieder­sachsen zu jung gewesen und für das höchste Amt im Staate ganze zehn Jahre zu jung. Ich finde diese Aussage problematisch, weil sie uns Fünfzigjährige, die wir trotz unseres jungen Alters durchaus schon etwas auf die Reihe kriegen, allesamt diskreditiert und dis­kriminiert. Wäre ich die Bildzeitungsreporterin gewesen, ich hätte dem Nestor der deutschen Nachkriegssozialdemokratie widerspro­chen. Ich bin aber keine Bildzeitungsreporterin, und als ich mir das sage, durchflutet mich sogleich ein Glücksgefühl. Ein Glücksge­fühl, das so stark ist, dass es meinen Ärger über die diskriminieren­de Aussage fast vollständig wegspült

Doch ich bin noch nicht fertig mit Herrn Schmidt. Wäre ich eine ZEIT-Redakteurin, hätte ich ihn sofort mit seiner Vergangenheit konfrontiert, die er anscheinend nicht wirklich aufgearbeitet hat. Sollte er verdrängt haben, dass in dem Alter, das er leichtfertig als unreif abtut, er selber Bundesminister der Verteidigung der Bundes­republik Deutschland war? Durfte denn je­mand, der aus heutiger Sicht des rüstigen Rentners noch grün hin­ter den Ohren ist, ein so wichtiges Amt innehaben in jenen schwe­ren Zeiten von Vietnam­krieg, internationalem Terroris­mus und Schah-Besuch, als die Stu­denten lieber auf Straßen und in Kommunen saßen als dort, wo sie hingehörten, in den Hörsä­len? Wie ist unter dem neuen Blickwinkel jene große Entscheidung die­ses Bundesverteidi­gungsministers zu bewerten, den Grundwehr­dienst von 18 auf 15 Monate zu verkür­zen? Etwa als ein pubertäres Kabinettstückchen? Und wo wir schon mal dabei sind: Wie alt bit­teschön war der damalige In­nensenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Schmidt, der als Krisenmana­ger während der Sturmflut 1962, alles, wie es heißt, alles richtig ge­macht hat, was man angesichts der Katastro­phe nur richtig machen konnte? Ganze 44 Jahre war er alt! Wäre ich eine ZEIT-Redakteu­rin und hätte Herrn Schmidt all diese Fragen gestellt, ich hätte be­stimmt eine Stunde später einen Brief von Herrn Giovanni di Lo­renzo auf meinem Redakteurinnenschreibtisch lie­gen und müsste mich eilen, in der ultimativ gesetzten Stunde all meine persönlichen Sachen zusammenzupa­cken. Selbstverständlich hätte ich dann gar nicht mehr fragen können, wie der heute Vierundneunzigjährige über das Geständnis des da­mals Vierundvierzigjährigen denkt, der sein Krisenmanagement mit folgenden Worten kommentierte: Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tage. - Gottseidank bin ich ja keine ZEIT-Redakteurin. Und so darf ich denn auch folgendes öffentlich zu bedenken geben: Was wäre wohl gewesen, wenn Herr Wulff ein solches Geständis gemacht hätte? Würde man es ihm als Jungspunt nach­sehen? Ich weiß nicht, was für eine Lehre ich aus dem Ganzen ziehen soll. Hoffentlich nicht, dass früher alles besser war

 

Der heutige Tag scheint ganz im Zeichen eines Altherrenstammti­sches zu stehen. Denn kaum ist die Stellungnahme des Altbundes­kanzlers verhallt, treten die vier noch lebenden Altbundespräsiden­ten auf den Plan und melden sich zu Wort. Walter Scheel (92), Ri­chard von Weizsäcker (91), Roman Herzog (77) und Horst Köhler (69) erklären einmütig, nicht zum Großen Zapfenstreich zu erschei­nen, mit dem Christian Wulff in drei Tagen offiziell verabschiedet werden soll. Ich rechne schnell mal nach, was die vier Herren auf die Waage bringen: 33+18+13+2 macht summa sumarum 66 Jahre Ehrensold. Mit 66 ist noch lang noch nicht Schluss. Ja, da hat Udo Jürgens Recht, denn jetzt kommen noch die xx Jahre von Herrn Wulff dazu. Allerdings muss man den Herrn Köhler gleich wieder abziehen, denn der hat vor Stunden ver­lauten lassen, er nehme sei­nen Ehrensold nicht in Anspruch. Sollte doch etwas dran sein an der Devise: Weniger Sold, mehr Ehre?

Kaum habe ich angefangen, darüber nachzudenken, kommen auch schon die ersten Madigma­cher um die Ecke gelaufen und quengeln, dass Herr Köhler nichts Genaues über die Höhe seines Verzichts sage und auch nichts dar­über, ob er zu diesem Verzicht nicht sogar gesetzlich verpflichtet ist, da nach dem BPräsRuhebezG (Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten) Ruhegehälter aus einer früheren Tätigkeit im öffentlichen Dienst auf den Ehrensold anzurechnen sind. Der Ver­zicht wäre demnach gar nicht so freiwillig und also ehrenvoll wie man meinen könnte, sondern hat möglicher­weise mit den Pensionsansprüchen zu tun, die Herr Köhler als Präsi­dent des Sparkassenverbandes und als Direktor des Internatio­nalen Währungsfonds erworben hat – Pensionsansprüche übrigens, die den Ehrensold spürbar übersteigen sollen. - Ich habe allmählich den Eindruck: Mit der Ehre ist es wie mit einem Maulwurf, der in einen Garten gerät, wo Rasenkanten mit der Nagelschere geschnitten werden, kaum zeigt er sich an der Oberfläche, kommt jemand herbeigerannt und haut ihm mit der Schüppe auf den Kopf.



Die Gefahr, dass mir dieser Tag von vorn bis hinten ins Gerontolo­gische ab­driftet, wird gebannt, als ich den Lebensmenschen an der Tür höre. Ich merke, wie sich meine Gesichtszüge entspannen und die Schul­tern lockern. Schluss jetzt mit stundenlangen Online-Re­cherchen, Schluss mit Quenglern und alten Herren. Jetzt mache ich es mir nett mit einem knusprigen Fifty, der in drei Tagen zwei Jahre älter sein wird als der jüngste Altbundes­präsident Deutschlands. Der Knusprige kommt zur Tür herein und sagt, er habe Rücken, ziem­lich heftige Schmerzen, er wisse nicht, wie er das den Tag über aus­gehalten habe. Er geht im 110°-Winkel nach vorne gebeugt im Zeitlupentempo durchs Zimmer und kippt auf das neue Sofa – lei­der auf die ausgeleierte Hälfte, wegen der ich bereits acht böse Re­klamations-E-Mails geschrieben habe. Der Lebensmensch stöhnt und schimpft auf das Sofa. Mir wird mulmig, weil der Sofa-Kauf ganz allein meine Sache gewesen ist.

Flink wie ein Hirsch schlüpft der Hund in sein für Menschen unsichtbares Hilfspflegerkittelchen und leitet umgehend Maßnahmen zur Reanimation des Rudelfüh­rers ein: Er spricht den Patienten an, testet dessen Reaktion auf sanftes Rütteln und überprüft schnüffelnd die Atmung. Sicherheits­halber springt er ihm auf den Brustkorb, defibrilliert ein wenig und leckt dem nun erneut Aufstöhnenden übers Gesicht. Schnell noch ein bisschen Frischluftzufuhr durch turbomäßiges Schwanzwedeln und dann müsste der Gerettete doch eigentlich wieder aufstehen und zur Leckerli-Dose gehen können. Tut er aber nicht.

Also versuche ich mal mein Glück und offeriere alles, was das Haus für den vorliegenden Fall bereithält : Arnika-Globuli, Rhus-tox.-Globuli, Wärmeflasche, Ibuprofen, Rotlicht, Wärme­pflaster, Johanniskrautöl … Danke, Danke, ruft der Kranke und wehrt ab. Er könne jetzt nicht so viel entscheiden. Versuch dir einfach vorzustel­len, was in diesem Moment für dich angenehm wäre, Dir guttäte. Na, wenn die Schmerzen weg wären, natürlich! Nein, ich meine, welche Heilmittel dir gut tun würden. Ach, ich weiß es doch nicht! Einen Moment lang überlege ich, das Heft in die Hand zu nehmen, weiß aber aus Erfahrung, dass dem Lebensmenschen Bemuttern nicht behagt, und halte lieber weiter am Prinzip der Entscheidungs­kompetenz des Patienten fest: Dann sag doch erstmal, ob du lieber etwas Schulmedizinisches oder etwas Naturheilkundliches haben möchtest. Der Patient blickt mich unsicher an, vermutlich hat er Angst, mich zu kränken, wenn er jetzt antworten würde: etwas Schulmedizinisches. Wenn die Schmerzen so stark sind, sage ich, könnte man vielleicht erstmal eine Ibuprofen einnehmen. Der Ge­sichtsausdruck des Lebensmenschen entspannt sich ein wenig. Die Tablette geht an den Start. Kann ich sonst noch etwas …? Ja, ruft der in verkrampfter Schonhaltung Verharrende, ich brauche diese ThermaCare-Rückengürtel! Ohne die kann ich morgen nicht zur Arbeit. Am besten holst du gleich ein paar von den Viererpackun­gen, bitte! Der Patient ist König, sage ich und gebe dem gebrechli­chen alten Mann einen Kuss. Auf dem Weg zur Apo­theke denke ich: Verkehrte Welt.

 

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