Ruhestand. Dokumentationsroman einer moralischen Entrüstung 1+ 2

29. Februar 2012

Aber was ist das schon gegen die Nachricht des Tages, sagt der Le­bensmensch und schaut mich erwartungsvoll an, oder hast du das noch gar nicht mitge­kriegt?

Was?

 

Er bekommt den Ehrensold.

Nein.

Doch, und daran ist wohl auch nichts zu ändern. Eine Verwaltungs­entscheidung, die im Präsidialamt getroffen wird.

Aber das kann doch nicht. Ich glaubs nicht.

Ist aber so, sagt der Lebensmensch und balanciert ein Stück Man­darinen-Sahne auf meinen Teller. Das Tortenstück kippt um. Pass doch auf!, schreie ich.

Ist doch nicht so schlimm, sagt der Lebensmensch.

 

Am Nachmittag bestelle ich per online einen Erdbeertopf, einen Pinguin­stempel, eine Teekiste und ein rotes Emailleschild mit der Aufschrift: Bit­te keine Werbung. Der Erdbeertopf markiert den Be­ginn der aufkommen­den frühjährlichen Gartenlust. Die Auswahl wird dadurch erschwert, dass ich bereits seit zwei Jahren über die Anschaffung nachdenke, und dann nimmt man natürlich nicht den erstbesten. Er sollte nicht aussehen wie alle, sollte groß und frost­fest und trotzdem bezahlbar sein. So etwas zu finden, kostet Zeit. Zwischendurch komme ich immer mal wieder auf die freenet-Start­seite, und lese immer nur wieder: Heiße Burger-Werbung mit Kate Upton. / Treffen Sie die richtige Wahl für Ihre Altersvorsorge. Ma­chen Sie hier den online-Vergleich. / Stars als Frau. Erkennen Sie den Promi? – Ja, klar, den erkennt doch jeder! Aber warum George Clooney als Queen? Etwa weil Helen Mirren einen Oscar für ihre Rolle als Queen be­kam und am letzten Wochenende Meryl Streep einen für ihre Rolle als Margret Thatcher, George Clooney aber keinen für seinen Matt King?

 

Nachdem das Briefkastenschild und die zwei Geburtstagsgeschen­ke ver­gleichsweise schnell bestellt sind, ist es auch schon Zeit, im Kamino­fen anzufeuern und das Abendessen vorzubereiten. Da dem Lebensmenschen gestern ein Zahn gezogen wurde, gibt es nahezu verkochte Salzkartoffeln mit Rührei. Beim per­fekten Dinner gibt es dagegen: Ein pikantes Fei­gensüppchen mit Knus­perbeilage; Rehra­gout mit Lorbeeräpfeln und handgeschupften Nudeln, beglei­tet von Feldsalat und zum Des­sert ein Schokotöpfchen mit Holunderblü­teneis und Birnenkom­pott. Hierfür bekommt Nicole 36 Punkte und geht damit in Füh­rung. Ich gehe mit dem Hund vor die Tür. Es ist deut­lich wärmer geworden, bald beginnt die Gartenzeit. Der Hund beschwert sich über einen entgegenkommenden Artge­nossen, der ihn mit kaltblau­em Halsbandlicht anblinkert. Der Art­genosse ist mindestens drei­mal so groß wie ein Mops und schweigt. Mein Hund kann sich kaum beruhigen, noch Meter später schaut er sich um und schnauft ent­rüstet. Für Mut und richtigen Riecher – Luxus­autobeleuchtung am Hund geht gar nicht – gibt es sogleich zwei Lecker­lies.

 

Gerne würde ich jetzt den FilmMittwoch im Ersten anschauen: Bis nichts mehr bleibt, heißt der Fernsehfilm. Er handelt von der Scien­tology-Organisation und beruht auf einer wahren Ge­schichte. Ziemlich gut gemacht und ziemlich großartig spielende Schauspie­ler: Silke Bodenbender, Felix Klare, Kai Wiesinger, Nina Kunzen­dorf, Suzanne von Borsody. Aber weil ich den Film schon einmal gesehen habe, ist er tabu. Denn auf un­serem Vorsätze-für-das-Neu­e-Jahr-Plan steht: Keine Wiederho­lungen im Fernsehen gucken! Ich erin­nere mich nicht mehr, wer von beiden auf diese Idee gekom­men ist. Aber das änderte ja jetzt nichts an der Situation. Der Vor­satz steht nun mal auf dem Plan, basta. Für mich sind Vorsätze eine ernstzunehmende und verbindliche Sache. Zumindest so lange, bis der andere sich als Fastenbrecher erweist. Dazu ist es in diesem Fall, soweit ich weiß, noch nicht gekommen ist. Also mache ich einen großen Bo­gen um die ARD und lande nach einigem Hin und Her auf ZDFinfo. Hier läuft gerade die Dokuserie: Ge­heimnisse des Dritten Reichs. Heute: Hitler und das Geld. Es ist mir wirklich neu, dass Hitler nicht ein mittel- und obdachloser Kunstmaler war, son­dern während seiner zweijährigen Kunstversuche von der finanziel­len Unterstützung seiner Familie gut leben konnte. Auch wusste ich nicht, dass er nur im Jahr 1933 auf sein Gehalt als Reichskanzler verzichtet hatte, ab 1934 zahlte er es sich wieder aus und packte nach dem Tod von Hindenburg das Gehalt des Reichpräsidenten noch gleich mit drauf. Im selben Jahr rechnete ein gewissenhafter Finanzbeamter aus, dass der nicht zuletzt durch die Verkäufe von Mein Kampf zum Millionär gewordene Reichskanzlerpräsident Steuern in Höhe von über 400.000 Reichsmark schuldig geblieben war. Hitler ließ das eingeleitete Steuerstrafverfahren einstellen und verfügte kurzerhand, dass er ein für allemal von der Einkommens­steuer befreit sei. Über den Finanzbeamten wüsste ich gerne mehr.

 

 

1. März 2012

Auf der ersten Seite der Frühstückszeitung steht als 12-Zei­len-Nachricht unten links in einer Reihe und Größe mit den Meldun­gen, dass das Frank­furter Arbeitsgericht den Flughafenstreik unter­sagt habe und die Drogeriekette Schlecker 2500 Filialen schließen werde: Der frühere Bundespräsident Wulff wird von diesem Don­nerstag an den sogenannten Ehrensold beziehen. Das teilte das Bundespräsidialamt mit. … Es waren objektive Umstän­de für eine erhebliche und dauerhafte Beeinträchtigungder Amts­ausübung ge­geben. …

 

Es ist natürlich objektiv richtig, dass ich von der Ehren­sold-Entscheidung bereits weiß, doch beim Lesen dieser 12 Zeilen ist mir, als hörte ich davon zum ersten Mal und kann mich nur wunde­rn:

Wundere mich, wieso ich gestern Abend keine Nachrich­tensendung geschaut und erwartbare Sondersendungen verpasst habe, gewiss einen ARD-Brennpunkt mit dem Titel: Eine Frage der Ehre, und Wolfgang Bosbach MdB als tapferem Interviewpartner.

Wundere mich, wieso das F.A.Z.-Titelbild, das unter der Über­schrift: Volles Rohr, eine rauchende Dicke Bertha zeigt, nichts mit der eigentli­chen Tagesmeldung zu tun hat, sondern die Diskussion um die Eu­ro-Krise illustrieren soll.

Und wundere mich, dass in ei­nem Artikel auf Seite 4 bereits alle Argumente entkräftet werden, die man gegen die Entscheidung des Bundespräsidialamtes ins Feld führen (höh? Gruß Dicke Bertha?) könnte, als da wären: Es handele sich hier um eine gesetzesvoll­ziehende Verwaltungsent­scheidung, eine tatbe­standlich gebundene Entscheidung, keine Ermessensent­scheidung, und es handele sich um einen Amtrücktritt aus politi­schen Gründen, für den objektive Umstände vorgelegen haben. Ach so.

Dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages wissen lässt, der Gesetz­geber habe sicher­stellen wollen, dass die Bezüge ganz oder auch teilweise belassen werden können, selbst wenn sich die strafrechtli­chen Ermittlungen bestätigen sollten, wundert mich dann fast schon nicht mehr.

Der Hund mit dem richtigen Riecher sitzt in eindeutiger Haltung vor der Küchentür. Ja, ich brauche auch frische Luft.

 

199 000 Euro im Jahr, plus Büro, Dienstwagen, Personal. Ja, das alles frisst auch mich richtig an. Nein, an den Rechenübungen, was das Ganze den Steuerzahl­er über die wohl möglichen Lebenserwar­tungsjahre hin kosten könnte, will ich mich nicht be­teiligen und schalte das Radio schnell wieder aus. Das Bügeleisen schalte ich auch wieder aus. Bügeln = Grübeln. Das hab ich von meiner Mutter geerbt. In der ersten Zeit nach dem Tod meines Va­ters konnte sie immer nur bügeln, wenn je­mand dabei saß und sie sich etwas er­zählen konn­ten. Später genüg­te ihr dann auch Ra­diounterhaltung, anfangs durch WDR2, später dann durch WDR4. Ohne solche Ab­lenkung kamen ihr schlechte Gedanken und Trä­nen. Ich muss zwar nicht weinen wegen der Ge­schichte mit dem Ehrensold, bin bei der ungeeigneten Bügelbegleitunterhaltung je­doch jäh in ein Hamster­rad maßloser Gehässigkeitsphantasien gera­ten. Da möchte ich schnell wieder raus.

 

Das Einräumen von frischem Brennholz in eine Banse, kann man gewiss auch zu den Tätigkeiten rechnen, bei denen es sich gut nachdenken lässt. In meinem Fall ist es allerdings so, dass mir hier­bei überhaupt keine Grübelgefahr droht. Ob das an der frischen Luft liegt, der körperlichen Tätigkeit oder am schlussendlich sinn­fälligen Ar­beitsergebnis, weiß ich nicht, wahrscheinlich liegt es an allem zu­sammen. Die Vögel zwitschern, der Hund jagt Tauben, die Wand aus Holzscheiten wächst und alles scheint friedlich, auch wenn es nicht ruhig ist: Zwei Gärten weiter wird ein Baum umge­sägt, in hörbarer Ferne sind Dackdecker am Werk und auf der Stra­ße pusten Motorradfahrer kräftig ihre Maschinen durch, um den Frühling zu begrüßen. Das kann man angenehm finden, solange man nicht gerade bügelt und dabei gehässig wird. Ich überlege, wo ich den Erdbeertopf hinstellen könnte und welche Gemüsesamen ich als Allererstes kaufen werde, natürlich Pflück- und Schnittsalate, Kohlrabi, Möhren und Radieschen, das ist klar, nur welche Sorten genau? Wieviel Bewährtes, wieviel Experiment in dieser Saison? Das Folientreibhaus hat seinen ersten Winter inklusive der späten harten Frostphase erstaunlich gut überstanden, die Reißverschlüsse gehen geschmeidig auf und zu, Ameisen- und Schneckennester sind nicht zu sehen. Der frischluftfanatische Nachbar, der selbst im Winter schon mal grillt, läuft wie gewohnt rauchend und telefonierend durch seinen Garten. Als er an unserer Hecke vorbeikommt, höre ich ihn sagen: Wenn der 82 wird, kostet uns das 6 Millionen, aber der wird wahrscheinlich noch älter.

 

Beim wöchentlichen Treffen zur Wassergymnastik der örtlichen Rheu­ma-Liga-Gruppe eröffne ich heute mit einem launigen: Guten Abend. Was machen wir mit Wulff? Ist das nicht alles eine große Scheiße?, grüßt die Physiotherapeutin zurück und kommt zum Be­ckenrand. Ich steige die Treppe herunter. Nur Werner und Manfred sind schon im Wasser, liegen in Rückenlage leicht schaukelnd, ganz entspannt wie beim Sonnenbaden. 200 000 plus Dienstwagen, Chauffeur und Sekretärin, ruft die Physiotherapeutin, wofür bitte­schön braucht der eine Sekretärin? Dabei rollt sie mit den Augen, halb verschmitzt, halb empört. Und noch ein Büro dazu!, rufe ich ihr zum Be­ckenrand hoch. Da kommt Gerda auf uns zugeschwom­men und sagt: Geht’s um Wulff? Ja, Gerda, sagt die Physiothera­peutin, ist das nicht ´ne Frechheit? Schlimm ist das, sagt Gerda, die da oben füllen sich die Taschen voll, aber wenn ein Hartz-IVer mal einen Euro zuviel verdient – nur einen Euro – dann kriegt er ab so­fort nüscht mehr! So sieht´s aus! Wir nicken. Aber es macht ja kei­ner was, ruft die Physiotherapeutin, ich sag immer zu meinen älte­ren Patienten, wenn sie wieder über Krankenkassen- und Renten­kürzungen schimpfen, warum geht ihr nicht auf die Straße und pro­testiert, ihr habt doch Zeit, in Frankreich rennen die Rentner so­fort auf die Straße, wenn man denen komisch kommt, hier bei uns wird im­mer nur geklagt, aber keiner macht was! Wenn alle protestieren würden, dann würd auch was passieren! Wir ni­cken. Obwohl ich in der Gruppe zur Minderheit der Nicht-Rentner gehöre, sage ich: Aber in Stuttgart sind die Rentner ja auf die Straße gegangen, ist doch schon mal ein Anfang. Die Physiotherapeutin nickt: Tja, viel­leicht tut sich ja mal was. Gehst du denn wegen Wulff auf die Stra­ße, frage ich sie. Ich? Ich muss doch arbeiten! Wir nicken. Und du Gerda? Die schaut mich entrüstet an: Wie denn? Mit zwei kaputten Knien?? Gottseidank sind inzwischen alle da und wir können mit dem Training beginnen, sonst wäre ich möglicherweise schnell noch in eine andere Minderheiten-Gruppe geraten. Damit mir nie­mand gram ist, bin ich bei den Übungen besonders aufgeräumt, zwinkere der Physiotherapeutin ein paarmal zu und johle, als wir im Kreis schnell hintereinander auf Zehenspitzen herlaufen sollen, meinem Vordermann Werner zu: Stell dir vor, ich bin der Staatsan­walt und du bist Wulff!

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Kommentare: 1
  • #1

    Lili (Freitag, 16 März 2012 11:04)

    Die Texte sind witzig und zeigen die Gedankenverläufe des Ichmenschen. Diese Gedanken und Einstellungen sprechen mir aus der Seele!
    Ich freue mich, wenn dem Ichmenschen noch lange was einfällt und lese gerne mit!